“Alles und jeder muss von Zeit zu Zeit Krisen durchmachen, die in sich immer die Chancen des Stagnierens, des Rückschrittes, des Scheiterns und des sich wandelnden Neuwerdens tragen. So kommt es auch im ‘Verlauf des menschlichen Biografie … in den bekannten Krisenepisoden immer wieder zu Konfrontationen zwischen dem eigenen Licht und dem Schatten’ (Lievegoed 2001, Glasl 1997). In der Konfrontation von Licht und Schatten finden Person und Gemeinschaft so immer wieder zusammen und arbeiten sich aneinander ab. Die Polaritäten von ‘Licht und Schatten’ und ‘Bewusstem und Unbewusstem’ sind wesentlich und sinnstiftend. Die damit verbunden Qualitäten sind so vielschichtig, wie Menschen es sind. Mit C.G. Jung formuliert, ist die Ganzheit der Realität niemals im Umfang des Bewusstem umfasst. Sie schliesst vielmehr ‘die unbestimmte und unbestimmbare Ausdehnung des Unbewusstem mit ein’ (Jung, zitiert nach Schacht 1967). ‘Der Weg zur Einheit verlangt aber mehr als blosse Flucht und blosses Wegschauen. Er verlangt von uns, immer bewusster in allem die Polarität zu sehen, ohne davor zurückzuschrecken, die Konflikthaftigkeit des menschlichen Seins zu durchschreiten, um fähig zu werden, die Gegensätze in uns zu einen’ (Dethlefsen et al. 1998). Über Jung und seinem ersten Mentor Sigmund Freud hinausgehend, reicht sowohl das individuelle als auch das kollektive Unbewusste von der Oberfläche bis in archetypische Tiefendimensionen. Entsprechend wirken individuelle und kollektive Bewusstseinsschichten bewusst und unbewusst ineinander und komplex miteinander ringend und ausgleichend (Epstein 2007).
Jung hat ‘gezeigt, dass sich der Schatten oftmals – dem Ich unbewusst – als Projektion manifestiert’. Das, ‘was eigentlich als Schatten zum Unbewussten des betreffenden Menschen gehört, sucht und findet dieser als einen Mangel, als Schuld, Fehler, Versagen bei einem äußeren Gegenüber’ (Wehr 1972). Die Möglichkeit des Kranken an der Abwehr des Schattens aus dem Bewussten schliesst Entfremdung in der Folge illusionärer Lichtidentifikation und Schattenprojektion ein. ‘Der Schatten ist die Summe dessen, von dem wir aufs tiefste überzeugt sind, dass es aus der Welt geschafft werden müsste, damit diese gut und heil werde. Doch gerade das Gegenteil ist der Fall: Der Schatten beinhaltet all das, was der Welt – unserer Welt – zum Heilswerden fehlt. Der Schatten macht uns krank, d.h. unheil, denn er fehlt uns zum Heil’ (Dethlefsen 1998)
Friedrich Glasl ordnet das Persönliche Unbewusste mit Hilfe des Schattens in die menschliche Ganzheit ein. Er beschreibt die Wesenselemente menschlichen Lebens als Dreigliederung des Menschen in Leib, Seele und Geist. Den geistigen Kern – die Identität – des Menschen differenziert Glasl wiederum in drei Glieder: in das höher Ich (das, was der Mensch im guten Sinne ist und werden kann, seine Ideale, seine geheiligten Werte, die als Einheit die Lichtperson bilden) und den Doppelgänger bzw. die Schattenpersönlichkeit (negative Eigenschaften, Schwächen, unmoralische Strebungen und Triebe, die als Einheit die Schattenperson bilden); in der Mitte steht das Alltags-Ich, das in der Spannung zwischen dem Streben nach Realisierung der Lichtperson und der Integration, Umbildung und Erlösung des Doppelgängers lebt.
Mit der Wesensentsprechung von Mensch und Organisation wird deutlich, dass Licht und Schatten dunkel und helle Qualitäten von Menschen und Organisationen repräsentieren und dass diese bewusst oder unbewusst von Menschen und Organisationen gelebt werden. Wie C.G. Jung gezeigt hat, ist jeder Mensch mit kollektivem Unbewusstem sowie mit Licht und Schatten von Organisationen wie Familien, (Sub-)Kulturen, privatwirtschaftlichen und öffentlichen Unternehmen sowie Staatsgemeinschaften verbunden. Mit den Gefahren von illusionären Lichtidentifikation und Schattenprojektion sind Individuen und Organisationen daher gleichermassen wie mit Potenzialen zur selbstverantworteten Entwicklung konfrontiert.
Im Schatten sind nicht nur negative, sondern auch positive Anteile verborgen (Bowles 1994). Ein Beispiel für positive Schattenanteile im Rahmen westlicher Sozialisation ist, dass bei Personen, die sich exakt-kühler Rationalität verschrieben haben, menschliche Potenziale wie Mitgefühl, Einfühlungsvermögen, Widerspruchstoleranz und Liebesfähigkeit in den Schatten gedrängt werden.
‘Daher ist das Unbewusste weder gut noch böse. Es ist die Mutter aller Möglichkeiten’ (C.G. Jung, zitiert nach Romankiewicz 2004). Vom tibetischen Buddhismus kann gelernt werden: ‘Das Schreckenerregende wird nicht abgeurteilt oder ausgeblendet, sondern man begegnet ihm mit Respekt und Achtsamkeit, ja sogar mit Mitgefühl, denn es ist nur die andere Seite der Helligkeit. Und nur darin, alle Seiten zu kennen und zu akzeptieren, liegt die Vollständigkeit des Lebens. Ohne Nacht kein Tag’. (Romankiewicz 2004)
Die damit sinnvoll werdenden psychoanalytischen Ansätze der Integration des Schattens und der Bewusstwerdung sind lebendige Paradoxie. Indem der Schatten Teil des Bewusstsein wird, ist er nicht mehr in dem Sinne Schatten, dass er dem Bewusstsein entzogen ist. ‘Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung’, weiss der Volksmund. Wie oft handelt man dann doch wider besseres Wissen? Und wo neues Licht auftaucht, ist neuer Schatten zwangsläufig anwesend. – Man kann es sich, wenn die Sonne aufgeht, an dem noch jungen Spiel von Licht und Schatten vergegenwärtigen. Die Integration des Schattens ist daher nie abgeschlossen. So bleibt die Aufgabe, aktive Projektionen bei sich zu erkennen, zeitlebens bestehen. Der eremitisch lebende Benediktinermönch Pater Gabriel formuliert das in diesem Zusammenhang Wesentlichen: ‘Man kann sich nicht mehr mit Ausflüchten retten. Wenn man zornig ist, dann ist es nicht irgendjemand anderes, der einen geärgert hat, ganz offensichtlich ist es man selbst.’-'Man ist und bleibt zu allem fähig, bis zum Schluss’ (Derwahl 2000)
Auf dem Weg zur Integration des Schattens ist nicht zuletzt im Blick zu behalten, dass der Schatten nicht alles, sondern eine von drei Basisqualitäten des eigenen Innersten ist. Wo Schatten ist, ist also auch Licht. Diese Seite beinhaltet die Aufforderung, nicht der Versuchung zu erliegen, sich und/oder das Gegenüber in der Krise mit dem Schatten zu identifizieren und zu bekämpfen, Schwarzmalerei zu betreiben und alles und jeden negativ zu sehen. Der Anspruch, nun alles anders machen zu wollen oder zu müssen, ist eine Quelle von Überforderung, die mehr als nur den klaren Verstand und den Schlaf rauben kann. Wenn man bei solchen Ansprüchen auch noch unbewusst in alten Denk- und Handlungsmustern stecken bleibt und die Problemlösung in mehr vom Gleichen sucht, ist das Chaos praktisch genauso perfekt, wie wenn man sich illusionär überzogen mit den Lichtseiten der eigenen Existenz identifiziert.
Wie tief schliesslich die Psychoanalyse und mit ihr die Realitäten und Bilder von Licht und Schatten in der christlich-abendländischen Kultur- und Geistesgeschichte verwurzelt sind, wird von Gerhad Wehr so gezeigt: ‘Und wenn der Bergprediger Jesus rät, man solle erst den Balken aus dem eigenen Auge entfernen, ehe man den Splitter aus dem des Bruders entfernt (Matth. 7,5), dann setzt dies eine gewisse Kenntnis von Projektions- und Verdrängungsmechanismen voraus, auch wenn darüber nicht weiter reflektiert oder theoretisiert wird. Der Vorgang als solcher erscheint evident’ (Wehr 1996). ‘Liebe deinen Nächsten wie dich selbst’, hat Pastorin i.R. Käthe von Gierke jüngst in einer Predigt Jesus Christus biblisch zitiert und pragmatisch werdend herausgearbeitet: ‘Denn wer sich selbst nicht grün ist, mit dem ist nicht gut Kirschen essen’ “(Ballreich, Fröse, Piber (Hg). 2007. Organisationsentwicklung und Konfliktmanagement, Innovative Konzepte und Methoden. ).